Was bedeutet Neutralität für das Aargauer Rote Kreuz?
Regula Kiechle: Es bedeutet, dass wir uns bei Auseinandersetzungen und politischen, religiösen oder ideologischen Kontroversen neutral verhalten. Im politischen Dialog mischen wir uns nicht direkt in Volksabstimmungen ein. Wohl aber dürfen wir verletzlichen und bedürftigen Menschen eine Stimme geben, entschlossen auf Missstände hinweisen und uns nach dem Grundsatz der Menschlichkeit für sie einsetzen. Da beziehen wir klar Stellung.
Wieso ist Neutralität so wichtig?
Im Mittelpunkt stehen für ein Hilfswerk wie das SRK die Menschen und in welcher Art diese Hilfe benötigen. Jegliches Engagement für bestimmte Ideologien oder einzelne Gruppierungen würde dem Auftrag zuwiderlaufen und automatisch gewisse Mitmenschen ausschliessen. Das Vertrauen aller Menschen im Aargau ist für unsere Arbeit aber fundamental. Nur so können wir sicherstellen, dass wir stets Zugang zu den Menschen erhalten, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen.
Wer sind die Menschen in Not bei uns im Kanton Aargau?
Die Notlagen entwickeln sich häufig im Verborgenen und haben unterschiedliche Gesichter. Es sind oft chronisch Kranke, Menschen an der Armutsgrenze, Betagte, überforderte Eltern, Leute, die nicht mehr mobil sind oder keine menschlichen Kontakte mehr haben. Es sind aber auch betreuende Angehörige, die sich rund um die Uhr um einen nahestehenden Menschen kümmern und gar kein eigenes Leben mehr führen können. Es sind junge Familien in Notsituationen, Menschen mit einer psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung mit dem Anliegen von weniger Abhängigkeit oder traumatisierte Personen mit Fluchthintergrund. Kurz gesagt: Wir helfen unbürokratisch überall, wo die Not am grössten ist.
Andere Hilfsorganisationen nehmen laut und klar Stellung. Ist das ein Vorteil?
Ja, Neutralität grenzt teilweise auch ein, weil sie uns die Möglichkeit nimmt, pointierte Standpunkte einzunehmen oder uns in bestimmten Situationen offensiv zu positionieren. Die Rotkreuz-Geschichte beweist uns gleichwohl, dass Neutralität die nachhaltigere Handlungsweise ist. Die Handlungen für die Menschen nützen oft mehr als endlose Debatten.
Wann fällt es Ihnen persönlich besonders schwer, neutral zu bleiben?
Da gäbe es viele Themen, zum Beispiel Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen, die sich nicht wehren können. Ich staune oft darüber, wie und mit welchen Argumenten teilweise die Steuergelder im Gesundheitswesen oder für öffentliche Projekte grosszügig verteilt werden. Aber in meiner Funktion als Geschäftsführerin schreibe ich weder Leserbriefe noch äussere ich mich politisch. Ich konzentriere mich auf die praktische Arbeit des Aargauer Roten Kreuzes vor Ort.